Umgang mit Angsthunden
Jetzt hat man, trotz aller Vorsicht, durch verschiedene Umstände einen Angsthund Zuhause und muss irgendwie die Zukunft meistern, sich selbst unnötigen Stress vom Hals halten und dem Hund möglichst vor Angst bewahren. Nur wie? Sehen wir uns ein Beispiel der Angstbewältigung bei Menschen an, die darin zum Profi geworden sind:
Berühmte Rockstars, die sicherlich keine Angst vor ihrem Auftritt haben müssten, weil sie das Stadion ohnehin begeistern werden, haben trotz aller logischen
Vernunft, Lampenfieber - was nur ein etwas schönerer Ausdruck für Versagensangst ist. Wie schaffen es diese Menschen ihre Angst zu überwinden und sich abends vor einem Riesenpublikum
zusammenzureißen und ihre Show abzuliefern?
Viele sehen sich die Bühne im hellen an, machen sich in entspannter Grundstimmung mit dem Aufbau und der Umgebung vertraut, machen ein paar Akustiktests, bereiten sich in ihrem Tempo auf den Auftritt am Abend vor und treten dadurch ein kleines bisschen entspannter vor das Publikum. Ein langsames Annähern an die angstauslösende Situation, scheint hier hilfreich zu sein. Die Betonung liegt hierbei auf langsam, in entspannter Umgebung und im eigenen Tempo im Unterschied zu dem beschrieben Da-Muss-er-jetzt-durch Verfahren, das in die Kategorie Flodding fallen würde.
Die Gattung Mensch rühmt sich mit der Anlage zur Empathie, also der Befähigung sich in andere Individuen hineinversetzen zu können. Versuchen wir diese Gabe ernsthaft und aufrichtig anzuwenden, wenn unser Hund Angstsymptome zeigt, könnte dies ein einfacher erster Schritt zu einem lösungsorientierten Handeln sein. Das emotionale Hundegehirn funktioniert prinzipiell wie das menschliche, unsere Vorstellungen werden den Emotionen des Hundes sehr nahe kommen.
- Wie nimmt der Hund die Situation aktuell wahr?
- Welche Möglichkeiten stehen ihm zur Verfügung?
- Welche Erfahrungen hat er in ähnlichen Situationen gemacht?
- Welche Emotionen kommen zum Vorschein?
- Was würden wir uns an seiner Stelle wünschen?
Wie würde man sich als Mensch an einen Gegenstand heranwagen, der dort auf dem Boden liegt und im ersten Augenblick sehr unheimlich wirkt? Für die bessere Vorstellungkraft nehmen wir an, dass eine Ratten reglos im Hausflur liegen würde, durch den man jetzt eigentlich gehen wollte, um die Post herein zu holen. Die Ratte, es sieht zumindest von hier aus wie eine, liegt etwas zusammengekauert in der Ecke vor der Haustür. Ist es tatsächlich eine Ratte? Ob sie wirklich nicht mehr lebt?
An dieser Stelle gehe ich davon aus, dass gut 20% der Leserschaft keine Lust mehr auf die Post hätte und sich wünschen würden, dass ein anderer das Rattenproblem löst. Ich glaube weniger als 5% würden ohne zu zögern, oder sich vorher kurz zu erschrecken, auf die Ratte zugehen, um herauszufinden, ob sie wirklich tot ist. Wohl niemand könnte sich mit dem Gedanken anfreunden, von einer weiteren Partei am Kragen gepackt, vor die Ratte geschleift zu werden und sich dabei anzuhören, man solle sich nicht so anstellen.
Bewaffnet mit einem langen Stock, in dicker Kleidung gesichert, würde ich versuchen, langsam auf das Rattending zuzugehen. Ein Netz oder einen Mülleimer zum Einfangen, hätte ich wahrscheinlich auch dabei. Schritt für Schritt mit viel warten und beobachten - so wage ich mich vielleicht an das Ding heran, und erst wenn ich mich davon überzeugt habe, dass es mich nicht anspringen kann, werde ich es vielleicht einfangen, beziehungsweise einsammeln. Meine Reaktion am nächsten Morgen, an dem sich eine weitere Ratte in den Hausflur verirrt hätte, wäre übrigens exakt dieselbe. Auch am Morgen darauf und dem Tag darauf. Es wäre ein sehr langer Gewöhnungsprozeß, bis ich morgens in den Flur gehen und beiläufig mit einem Kehrblech eine Ratte aus der Türecke einsammeln könnte!
Die knisternde Mülltüte, der Mann im dunklen Mantel, die Einkauftasche im Hausflur, das alles können solche "Ratten" für unsere Hunde sein. Einmal damit konfrontiert worden zu sein, reicht unserem Hund unter Umständen nicht aus. Rufen wir uns immer wieder ins Gedächtnis, dass unsere Hunde schlecht im Generalisieren sind. Die Einkaufstasche im Hausflur trägt anfangs keinerlei Verbindung zu der, die am Morgen im Keller stand oder gestern im Auto lag.
Die Zeit, die wir brauchen, um uns mit unsicheren oder zumindest ungewohnten Situationen auseinanderzusetzen, müssen wir auch unseren Hunden zugestehen. Leider ist diese Zeit nicht mit einer Formel berechenbar, sondern individuell unterschiedlich und umso länger, je ängstlicher sich ein Hund generell gibt. Wie lange wird ein Mensch mit einer Phobie vor Menschenmengen brauchen, um auf einen vollen Weihnachtsmarkt zu gehen und das ganze vielleicht sogar noch zu genießen? Genauso so lange kann es bei einem Hund mit schlechten Erfahrungen bei Hundebegegnungen dauern, bis er andere Hunde an sich heranlässt.
Das Mittel der Wahl ist eine sehr gering dosierte Menge an Angstauslösern, verteilt auf gefühlt unendlich viel Zeit. Das bedeutet: viele positive Erlebnisse, kurze Lerneinheiten, Geduld und Verständnis. Dies ist eine gute Grundeinstellung, um sich ernsthaft mit ängstlichen Hunden zu beschäftigen.
Ein Wort noch zum Schluss: Ein Hund würde im Beispiel unserer toten Ratte übrigens, recht schnell sehr entspannt entgegnen: “Die ist tot, das riecht man doch!
Kannst da ruhig hingehen, die tut nix mehr!”
Joern
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Sandra-Michaela Reichert (Sonntag, 20 Februar 2022 21:01)
Vielen lieben Dank für diesen tollen Beitrag.
Super und sehr verständlich erklärt. Wir waren am Freitag mit Smutje am Irenensee es waren sehr wenig Leute da. Wir ließen ihn mit der Schleppleine laufen, wenn ich gemerkt habe das er etwas unheimlich findet (z.B. die Mülltonnen) dann habe ich die Leine aufgenommen, bin hingegangen zu der Tonne und habe ihm gezeigt das es nichts gefährliches ist. Bei den letzten war er dann relativ entspannt und ich auch.
Ich muss au j an mir arbeiten, weil ich merke wie ich selbst angespannt bin, grade wenn uns andere Hundehalter entgegen kommen und Smutje gleich anfängt zu bellen, aber es klappt auch schon mal das es (fast) ohne geht.
Liebe Grüße
Sandra